Episode 16 – Krankenhaus-Digitalisierung in der Sackgasse

oder warum wir Krankenhaus-Digitalisierung neu denken sollten

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Für viele Krankenhausmitarbeitende bedeutet Krankenhaus-Digitalisierung nicht Spaß, Fortschritt oder Innovation, sondern mehr Arbeit, mehr Mühe und häufig leider auch größere Unsicherheiten. Die vielen Milliarden Euro kommen nicht bei ihnen an – in Form echter Verbesserung. In diesem Podcast beleuchte ich die fünf entscheidenden Ursachen für diesen Mangel. Es wäre bedauerlich und würde den riesigen Potenzialen der Krankenhaus-Digitalisierung nicht gerecht, wenn wir die Art und Weise, wie wir heute Digitalisierung betreiben, nicht neu denken würden.

Episode 16: Krankenhaus-Digitalisierung in der Sackgasse
Episode 16: Krankenhaus-Digitalisierung in der Sackgasse bei Spotify

In der heutigen 16. Episode von „das ist Lean Hospital“ geht es um das große Thema Digitalisierung. Digitalisierung – das klingt nach iPhone, tiktok, KI und freudvoller spannender Zukunft. Digitalisierung – dieses verheißungsvolle Wort weckt Erwartungen, die sich leider seltener erfüllen als uns lieb sein dürfte. Es läuft einiges gewaltig schief in der glitzernden Krankenhausdigitalisierungswelt. Die Art und Weise, wie wir sie angehen, müssten wir einer grundlegenden Neuorientierung unterwerfen.  

Eigentlich dachte ich ja, ich würde um das Mega-Thema herumkommen, wo sich doch so viele Akteure engagiert und öffentlichkeitswirksam zu Wort melden – angefangen mit den einschlägigen Popstar-Professoren, die auf jeder Bühne zu sehen sind, über versierte Krankenhauslenker, erfahrene IT-ler, Software-Anbieter oder viele überaus spannende Start-Up-Vertreter. 

Gut: Ich verirre mich selten auf Kongresse. Doch ob dort oder in den sozialen Medien: manchmal gewinne ich den Eindruck, dass in der Krankenhausszene keine sonstigen Themen ähnlicher Bedeutung mehr existieren. Sieht man von der nächsten Krankenhausreform oder latentem Personal- oder Geldmangel ab.

Zumindest beim letzten Punkt scheint rund um das Thema Digitalisierung kein Mangel zu existieren. Milliarden Euro liegen auf dem Tisch. Niemand möchte sich vorwerfen lassen, das nicht ausgenutzt zu haben. Doch angesichts dieser Summen überrascht es mich doch, dass bei den gemeinen Krankenhausmitarbeitenden bislang wenig Begeisterung auf und noch weniger Produktives ankommt.

Zu meiner Ehrenrettung schicke ich voraus: Ich bin bekennender Digitalisierungsfan. Ich verspreche mir viele neue, hilfreiche Angebote für Patientinnen und Patienten, mehr Qualität, mehr Sicherheit und mehr Effektivität in den Behandlungsprozessen und – nicht zu unterschätzen – deutlich bessere Arbeitsbedingungen für Mitarbeitende. Bislang sehe ich nicht, dass diese Hoffnung in Erfüllung geht.

Für viele Ärztinnen und Ärzte, Pflegende und andere prozessnahe Mitarbeitende bedeuten digitalisierte Prozesse aktuell mehr Arbeit, nicht weniger. Alte analoge Abläufe werden durch aufgehübschte digitale ersetzt, oft ohne nennenswerte Prozessvorteile für die Akteure. Stattdessen erleben wir, wie unsere digital ungeübten und dafür umso findigeren Krankenhausmitarbeitenden rasch lernen, wie sie ihre alten, irgendwie funktionierenden Abläufe bewahren können, weitestgehend unter Umgehung digitaler Zwangsprozesse. Ein solches Umgehungsprinzip produziert vor allem Mehrarbeit und führt letztlich die möglichen Vorteile der Digitalisierung ad absurdum. 

Es wird Zeit, die wichtigsten Gründe nüchtern und bei Lichte zu betrachten. Es sind im Wesentlichen die folgenden fünf Gründe, die das Vorhaben in die Sackgasse führen.

  1. Digitalisierung ist nicht das Ziel
  2. IT ist eigentlich der falsche Treiber für die Digitalisierung
  3. Digitalisierung verfügt noch nicht über eine Landebahn im Unternehmen
  4. Einführungs- und Trainingskonzepte widersprechen jeglicher Lerntheorie
  5. IT-Zwangsstandardisierung funktioniert nicht in einer manifesten Kultur von Flexibilität und Individualität

Lassen Sie mich vorne beginnen:

Digitalisierung ist nicht das Ziel

Der Zweck eines Krankenhauses besteht darin, Patienten zu heilen bzw. medizinisch-pflegerisch zu versorgen. Es lohnt sich also, in Dinge zu investieren, die die Ausführung der sich daraus ergebenden Aufgaben unterstützen, verbessern bzw. erleichtern. Die Digitalisierung von Prozessen sollte genau dazu einen Beitrag leisten. Sie ist also ein Beitrag, ein wichtiger, doch mitnichten das Ziel.

Sobald wir – wie es heute geschieht – das digitale Krankenhaus zum Ziel unserer Aktivitäten erklären, geraten wir unweigerlich auf den Irrweg. Warum? Weil wir den Erfolg der Digitalisierung daran messen, ob sie existiert und – vor allem anderen – ob etwas technisch einsatzfähig ist. 

Wir messen ihren Erfolg nicht daran, welchen Prozessbeitrag sie leistet bzw. welchen Vorteil sie für Patienten oder Mitarbeitende mit sich bringt.

Nehmen sie das Beispiel mobile, digitale Visite. Die Hauptprotagonisten der Digitalisierung – Geschäftsführung und IT – verkünden die Umsetzung der mobilen Visite und erklären, dass das Schulungsprogramm vollständig umgesetzt sei. Sie erklären also ihren Erfolg.

Ob die mobile Visite für Ärztinnen und Ärzte, Pflegende oder andere Berufsgruppen tatsächlich einen Vorteil in ihren täglichen Abläufen mit sich gebracht hat oder – im Gegenteil – sogar zu Informationsbrüchen und Doppel- bzw. Mehrarbeiten geführt hat, das erklären sie nicht.

Wir verfolgen also das falsche Ziel. Deshalb messen wir die falschen Ergebnisse. Und weil wir die falschen Ergebnisse messen, tun wir auch das Falsche. Die immer gleiche Führungs-Logik. In einer Organisation tun wir alles für das gesetzte Ziel. Wir bekommen, was wir messen. Auch wenn es das Falsche ist.

Die Folgen sind schwer zu übersehen: wir konzentrieren uns primär auf die „Inbetriebnahme“ digitaler Funktionen. Wir konzentrieren uns nicht darauf, unsere Prozesse und Abläufe zu verbessern. Wir schauen kaum darauf, ob Funktionen wirklich adäquat genutzt werden bzw. überhaupt genutzt werden können.

So wird Digitalisierung zum Selbstzweck. Wir entwerten sie, weil wir nicht die Vorteile realisieren und uns nicht an den Vorteilen messen. So verliert Digitalisierung für Mitarbeitende ihren Wert, weil die ihren Wert nicht erleben. Anschließend wundern wir uns darüber, warum alles derart zäh verläuft und grübeln darüber nach, wie wir Digitalisierung intern besser vermarkten, unsere Mitarbeitenden mitnehmen könnten und den großen CHANGE voranbringen können.Mitarbeitende mitnehmen ist wieder eines dieser Managerphrasen-Fluchtwege, mit der wir uns vor dem eigentlichen Problem drücken. Mitarbeitende können und müssen nicht mitgenommen werden. Sie bewegen sich völlig von allein, sobald sie sich einen Vorteil für sich und ihre Patientinnen und Patienten versprechen. Das erlebe ich täglich in den Verbesserungsteams vor Ort. Keine Zweifel.

Vortrag auf dem „lean around the clock 2019“

Damit kommen wir zum 2. Fehler im System:

Die Abteilung IT ist nicht die beste Treiberin für Digitalisierung.

Die allermeisten Vorträge zum Thema DIGITAL werden von IT-lern gehalten. Das liegt angesichts des Themas durchaus nahe. Schließlich kennen die sich am besten aus – mit dem Digitalen. Sie gewinnen intern beinahe immer den gewichtigen Auftrag, diese neue Welt in das Unternehmen zu tragen, zu treiben. Schließlich soll das Ziel „Digitalisierung“ mit aller Wucht und Wumms Realität werden. Wir sind das digitale Krankenhaus! Applaus von allen Seiten!

Das Problem ist: – Sie ahnen es – Digitalisierung ist nicht das primäre Ziel. Das primäre Ziel besteht darin, Krankenhausarbeit zu verbessern, also die Erfüllung des Krankenhauszwecks zu unterstützen.

So sehr ich unsere IT-Experten für ihre Kompetenz und ihr Engagement bewundere: sie sind selten die Führungs-, Prozess- und Veränderungsexperten im Unternehmen. Sie stehen auch nicht in der organisatorischen Verantwortung dafür, Qualität zu steigern, Mitarbeiterzufriedenheit herbeizuführen oder das wirtschaftliche Ergebnis zu verbessern.

IT-ler sind in meinen Augen die kompetenten Dienstleister für diejenigen, die stattdessen in der Verantwortung stehen und das Thema eigentlich vorantreiben müssten: die Führungskräfte, die Prozess- und Veränderungsexperten, die Behandlungsexperten. Die müssten das allerhöchste Interesse und die höchste Kompetenz haben, weil sie es sind, die sich Vorteile für ihre originäre Arbeit und für die Wahrnehmung ihrer Verantwortung versprechen – müssten.

So weit sind wir bislang noch gar nicht gekommen. Ich erlebe nicht, dass diese Menschen unsere IT-Experten als echte Dienstleister wahrnehmen. Wofür auch: Führungskräfte und andere Verantwortliche sind bislang selten aussagefähig, wenn es darum geht, echte IT-induzierte Prozesspotenziale zu benennen. Wie sollen sie also den wahren Wert der Digitalisierung für das tägliche Tun einschätzen können? Ihr einen echten Wert beimessen? Ich behaupte, im Grunde unterschätzen die meisten Beteiligten den wahren Wert der Digitalisierung schon deswegen, weil sie das Potenzial für ihre eigenen, heutigen Prozesse völlig unterschätzen bzw. gar nicht kennen. Irgendwie ahnen sie das Potenzial. Ja. Auf einer hohen Flughöhe. Operative Konkretheit ist derzeit jedoch kaum anzutreffen. 

Wir wissen: Worin der Mensch keinen Wert erkennt, darin steckt er keine Energie. Dann müssen halt die anderen ran – die IT-ler…. Man treibt nicht selbst, man lässt andere treiben.

In diese Treiber-Lücke springen zwangsläufig die IT-Verantwortlichen. So wird IT meist auch erlebt – als Treiber. Und man selbst ist der Getriebene. Schlimmer noch: Weil die IT im Durchschnitt unterbesetzt ist – trotz ihrer immensen, wahren Bedeutung – wird sie häufig als „langsamer“ Treiber wahrgenommen. Wie auch immer. Es ist absurd: IT soll jetzt Führung und alle anderen an-treiben.

Die Verantwortung befindet sich bei den falschen Personen, weil das Ziel das falsche ist. Digitalisierung ist das Leben der anderen, nicht der eigentlich Verantwortlichen. Dieses Prinzip sollten wir umkehren.

Im Übrigen wird das Prinzip der umgekehrten Verantwortung in einigen Krankenhausunternehmen aktuell verstärkt. Mir war es bis vor wenigen Wochen noch nicht klar. Es werden nämlich die ersten Digitalisierungsvorstände ernannt. Ich habe echte Zweifel daran, ob sich dieser Weg als hilfreiche Strategie herauskristallisiert. Ich glaube, hier wird einmal mehr Verantwortung ausgeparkt und separiert. Es wird noch mehr Führungswirrwarr geben. 

Viel besser wäre es, einen Behandlungsprozessvorstand zu benennen. Den gibt es in der klassischen Verantwortungs-Dreiteilung von Kaufmann, Arzt und Pflege nämlich bislang nicht. Oder eigentlich doch. Für mich ist es der Vorsitzende der Geschäftsführung bzw. des Vorstands, denn der oder die ist kraft Amt hauptverantwortlich dafür, dass das Unternehmen seinen Unternehmenszweck langfristig und im Wettbewerb mit anderen Unternehmen erfüllt. Der lautet: die Behandlung von Patientinnen und Patienten. Allenfalls würde ich noch an einen „Produktionsvorstand“ denken. In keinem Fall aber an einen Digitalisierungsvorstand. Wir brauchen endlich wieder jemanden, der wirklich für den Patienten verantwortlich ist – für den Behandlungsprozess. Wer auch immer die Verantwortung trägt und sie verantwortlich ausübt, ob Digitalisierung oder Prozessverbesserung. Sie alle werden kaum eine Chance haben, echte Fortschritte in der Organisation zu erzielen, wenn sie ihre komplexen und riesigen Organisationen nicht veränderungsfähig machen. Das sind sie nämlich bislang nicht. An dieser Front sind uns weite Teile der Industrie um mindestens 30 Jahre voraus.

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Damit wären wir bei Punkt 3:

Digitalisierung verfügt noch nicht über eine Landebahn im Unternehmen

Auch der Digitalisierung. Vor allem aber der Prozessverbesserung.

Sie kennen meine Meinung. Die heutige Krankenhausorganisation verfügt weder über die Kompetenzen noch die Strukturen, um systematische Prozessverbesserung in der Fläche zu betreiben. Ganz gleich, ob Mitarbeitende wollen oder nicht, sie müssen überhaupt einmal in die Lage versetzt werden, Organisationsentwicklung systematisch und kompetent zu betreiben. Gemeinsam. Prozessorientiert. Berufsgruppenübergreifend. Kontinuierlich.

Wir benötigen dezentrale, eigenverantwortliche und gut strukturierte Teams, die in festen Routinen berufsgruppen- und hierarchieübergreifend kontinuierlich daran arbeiten, ihre Abläufe in kleinen Schritten zu verbessern. Das ist Lean Teamboarding, wie ich es verstehe.

Teamboarding ist nichts anderes, als ein agiles, funktionierendes Verbesserungssystem, in dem sämtliche Unternehmensbereiche dezentral kontinuierlich daran arbeiten, dass jede Woche etwas besser wird, dass alle voneinander lernen und sich gegenseitig unterstützen. 

Wir transferieren Organisationsentwicklung zurück in die Verantwortung unserer Mitarbeitenden, entwickeln ihre Kompetenzen weiter und lassen auf diese Weise OE zu einem festen Bestandteil ihrer Arbeit werden. Wir installieren also konsequent agile Strukturen in jedem Organisationsbereich. Wie das funktioniert, habe ich in den Episoden 3 und 15 dieses Podcasts unter dem Stichwort Teamboarding ausführlich beschrieben. Vielleicht haben Sie ja Lust, noch einmal hineinzuhören.

Wenn ein solches Veränderungssystem erstmal etabliert ist, dann bekommt Prozessverbesserung eine echte Landebahn bei den hunderten und tausenden von Mitarbeitenden im Unternehmen. Und damit bekommt auch die Digitalisierung als unterstützende Verbesserungsfunktion eine Landebahn. Eine Verankerung in der Operativen. Dort, wo die eigentliche Arbeit passiert.

Jetzt bekommt der Prozess- und Digitalisierungsunterstützer ein praktisches Forum für seine Dienstleistung. Nehmen wir beispielsweise eine Station, also eine Verbesserungseinheit von vielen. 

Jeden Tag treffen sich dort alle Mitarbeitenden kurz und schmerzfrei, um über Verbesserung zu sprechen. Jede Woche sitzt das sogenannte Kernteam zusammen und zerbricht sich den Kopf darüber, wie es in seinem eigenen Bereich besser werden kann. 

Die Akteure stellen sich dabei automatisch die Frage: wie können wir unsere Prozessverbesserung digital unterstützt abbilden. Oder umgekehrt. Welche Funktionalität und damit welche Möglichkeiten bietet das Digitale und zu welchen Prozessverbesserungen könnte das führen? Diese Teams wollen Verbesserung und freuen sich über digitale Unterstützung, weil sie lernen, ihren Wert zu erkennen. 

Sie fühlen sich nicht als die Getriebenen des Digitalen. Sie denken nicht: wir müssen digitalisieren. Sie denken: wir müssen besser werden. Das sind zwei vollständig unterschiedliche Gedankenwelten mit vollständig unterschiedlichen Wirkungen.

Ohne eine solche Landebahn erreichen wir niemals das operative Geschehen. Wir müssen uns immer wieder vor Augen halten: wenn Verbesserung eintreten soll, bedeutet das, dass hunderte Mitarbeitende in ihrer täglichen Arbeit viele Handgriffe verändern, viele Routinen, viele Verhaltensweisen aufgeben und permanent neue Kompetenzen erwerben müssen. Genau darin benötigen sie konkrete Unterstützung, jeder Einzelne. Macht mal reicht nicht mehr. Es helfen keine Apelle oder Vorgaben oder andere Mechanismen aus hoher Flughöhe. 

Diese Art von Innovation gelingt nur mit kontinuierlicher, mühsamer und unterstützender Arbeit vor Ort innerhalb eines festen Veränderungsrahmens. Alles andere wäre geschichtlich neu und würde einem Wunder gleichkommen.

Mit dem Bau einer solchen Landebahn können wir nun einen weiteren Punkt unter die Lupe nehmen. Punkt 4:

Einführungs- und Trainingskonzepte widersprechen jeglicher Lerntheorie

Kennen Sie das? Branchenweit etablieren sich Vorgehensweisen, die überall wie selbstverständlich angewendet werden und deswegen als GOLD-Standard anerkannt werden. Niemand hinterfragt sie. Niemand wundert sich. 

Dazu zählt das allseits bekannte Train-the-Trainer-Prinzip. Wenige Leute werden geschult. Die Auserkorenen geben es dann kundig an ihre Kolleginnen und Kollegen weiter. Sie werden zu Multiplikatoren in der Organisation.

Auf den ersten Blick suggeriert dieser Weg echte Logik. In Wahrheit scheitert das Prinzip meist an mindestens diesen beiden Faktoren:

  1. Wenn ich eine Person 4 Stunden intensiv schule, dann bleiben ihr maximal 10 Prozent im Gedächtnis. Selbst wenn der unwahrscheinliche Fall eintritt, dass sich diese Person mehr als andere mit der Thematik in der Praxis beschäftigt, bleibt kaum mehr als ein halbes Laienwissen übrig. Die Folge: der Halblaie schult den Laien. Nicht zu vergessen: gelernt ist noch nicht gekonnt.
  2. Diese Halbleien werden selten freigestellt von ihrer eigentlichen Arbeit. Also verfügen sie überhaupt nicht über die Zeit und nicht über die Gelegenheit, ihre Kolleginnen und Kollegen zu unterstützen.

Das Resultat besteht in einer perfekten IT-Anwendung, die von ungeübten Laien bedient wird. Oder sagen wir besser: die es versuchen. Die Folge: Mitarbeitende benötigen mehr Zeit als notwendig. Sie nutzen die Möglichkeiten des Systems nicht aus, weil sie sie nicht kennen. Und – für alles, was aus ihrer Laiensicht heraus nicht funktioniert, finden sie praktische Umgehungsstraßen. So kommen wir niemals zu besseren Organisationen bzw. Prozessen.

Es geht um das Können, nicht um das Schulen. Wir wissen aus der Lerntheorie, dass Schulungen zum Kompetenzaufbau nur etwa 10%, die gelebte Praxis dafür 60% und anwendungsbegleitendes Coaching nochmals 30% beitragen. Die heutigen Einführungslogiken folgen dieser Logik nicht bzw. widersprechen ihr teils diametral. 

Wenn wir die Milliarden effektiv einsetzen wollen, müssen wir als erstes flächendeckende Lernsysteme entwickeln – analoge und vor allem digitale. Und den Mitarbeitenden Zeit zum Lernen einräumen.

Wir könnten darüber hinaus dezentrale Prozess-Digital-Coaches© aufbauen, die unsere Mitarbeitenden in ihrer täglichen Arbeit – vor allem in der Verbesserungsarbeit – praktisch unterstützend zur Seite stehen. Das Forum dafür existiert jetzt, jeden Tag und überall – dafür sorgt unser Verbesserungssystem – Teamboarding nämlich.

Der Genauigkeit halber: Ich setze nicht auf einen Digital-Coach. Das neue Ziel lautet Prozessverbesserung – das zentrale Mittel ist IT. Deshalb brauchen wir einen digitalaffinen Prozesscoach. Den Prozess-Digital-Coach. Wir denken von nun an konsequent in Prozessen.

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Der Roman beschreibt die Entwicklung eines ganz normalen Krankenhauses auf dem Land, das sich in kürzester Zeit aus dem engen Regiment eines börsennotierten Krankenhauskonzerns befreit und sich zu einem selbständigen, wirklich patienten-, versorgungs- und mitarbeitergetriebenen Krankenhaus entwickelt. Dieses Krankenhaus will anders sein als die anderen. Besser für seine Patienten und für seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Und wirtschaftlicher. Es hat eine klare Idee von seiner Zukunft.

Der Hauptprotagonist des Romans, Felix Bender, ist Geschäftsführer eben dieses Melbecker Krankenhauses, als der Start-up-Milliardär Björn Meiersiek das Krankenhaus übernimmt. Dessen Ziel ist klar: den Grundstein für einen Krankenhauskonzern legen, der das Patientenwohl wieder in den Mittelpunkt stellt. Gemeinsam mit der Ärztin Luise Pickart macht er sich daran, das Unternehmen von Grund auf umzukrempeln. Felix Bender, in den traditionellen Sphären der Konzernkrankenhauswelt großgeworden, taucht, quasi über Nacht, ein in eine völlig neue Welt, in der die alten Regeln der Krankenhausführung auf einmal nicht mehr zu gelten scheinen. Er durchlebt im Eiltempo seinen ganz persönlichen Entwicklungsprozess, während er gemeinsam mit Luise Pickart und dem jungen Lean Manager Steffen Ganz seine Organisation konsequent neu erfindet.

Womit wir beim 5. und letzten Punkt wären:

IT-Zwangsstandardisierung funktioniert nicht in einer manifesten Kultur von Flexibilität und Individualität

Der effiziente Einsatz von Softwaresystemen verlangt wohl oder übel ein erhebliches Maß an standardisierten Prozessen. Das Problem ist, dass solche standardisierten Prozess in einem klassischen Krankenhaus kaum anzutreffen sind. Wenn Sie meinem Podcast bisher gefolgt sind, teilen Sie vielleicht meine Auffassung, dass das Grundprinzip der Organisation „Chaos“ lautet. Alles passiert ad hoc, ist dringlich, kaum vorhersehbar oder gar planbar. Krankenhausprozesse weisen ein hohes Maß an Schwankungen auf. Kaum ein Vorgang lässt sich ungestört zu Ende bringen. Mehr als 30 Prozent der Arbeit verschwindet täglich in Verschwendungsaktivitäten

Eine Chaosorganisation lässt sich im Grunde nur dann beherrschen, wenn Mitarbeitende maximal flexibel und höchst individuell agieren. Genau das ist deshalb die Basiskultur einer Krankenhausorganisation: Regelaversion, maximale Flexibilität und Individualität. Regeleinhaltung und Individualität widersprechen sich.

In diese Kultur implementieren wir nun standardisierte KIS-Systeme und unternehmen so den Versuch, Kultur über Technik zu verändern. Ich gebe zu: eine Zeitlang dachte ich, das wäre ein interessanter Weg. Heute weiß ich es besser. Der gemeine, maximal flexible und auf seine Individualität bedachte Mitarbeitende lässt sich von derartigen Zwangsjacken kaum beeindrucken. Er oder sie finden zuverlässig neue Wege, ihre bewährten Routinen weiterzuverfolgen. Die Gründe sind nicht etwa Veränderungsangst, Ignoranz oder irgendeine andere irrationale Art der Vergangenheitsbewahrung: sondern weil diese Kultur und die auf ihr beruhenden Reaktionsmuster maximal hilfreich sind, um das tägliche, organisierte Chaos erfolgreich zu bewältigen. Der Nachteil: es produziert maximalen Aufwand und viele unnötige Risiken. Vor allem aus diesen Gründen liegt die Zukunft unserer Krankenhäuser in der Gestaltung neuer Prozesse. Im vorausliegenden Jahrzehnt wird das unsere Hauptarbeit ausmachen.

Die Transformation einer Chaos-Organisation in eine regelbasierte stellt allerdings das dickste Brett dar, das wir im Zuge von Prozessverbesserung jeden Tag neu bohren. Die Anforderung besteht darin, alle Mitarbeitenden aus ihren gewohnten Chaos-Abläufen in echte standardisierte Prozessroutinen zu führen. An einer bewährten Kultur hängen nicht nur Gewohnheiten, Glaubenssätze, Haltungen, Erfahrungen, sondern auch schlichte, neue Leitungskompetenzen. Im Chaos funktioniert Leitung völlig anders als in einer regelbasierten Organisation. Im Chaos ist Troubleshooting gefragt, in einer regelbasierten Organisation dagegen kontinuierliche Begleitung bis hin zu trockener Kontrollarbeit.

Weil sich diese Flexibilitäts- und Individualitätskultur über Jahrzehnte manifestiert hat, können wir sie nicht mit einem Federstrich, allein über die Bereitstellung eines Rechners und ein paar Stunden Schulung beseitigen. Wir benötigen andere Wege. Solange wir allerdings daraufsetzen, dass IT per se zu einer Standardisierung von Prozessen beiträgt, werden wir immer wieder erleben, dass potenziell hilfreiche Digitalisierungsprozesse im allgemeinen Chaos der Organisation versinken. Chaos schluckt Ordnung zum Frühstück. Um einmal einen bekannten Satz zu missbrauchen.

Am Ende

Die Digitalisierung wird unseren Krankenhäusern echte Innovationsschübe bescheren. Wenn wir unsere Ziele verändern. Nicht das Abgreifen möglichst vieler Milliarden ist das Ziel oder Digitalisierung als solches. Das Ziel besteht darin, mit der Hilfe digitaler Funktionalität unsere Prozesse zu verbessern. Bessere Angebote für Patientinnen und Patienten, mehr Qualität, höhere Sicherheit, bessere Arbeitsbedingungen und – für die Ökonomen: automatisch mehr wirtschaftliches Ergebnis. Wenn es gut läuft.

Ich fände es jedoch äußerst schade und würde den enormen Potenzialen nicht gerecht, wenn wir einfach so weitermachen würden. Da ist mehr drin. Vielleicht trägt dieser Podcast ja ein ganz klein wenig zum Umdenken bei. Es würde mich freuen.

Wenn Sie Fragen oder Anregungen haben, schreiben Sie gerne einen Kommentar oder mir eine Mail. Falls Sie meine Bücher noch nicht gelesen, muss ich Sie Ihnen aus purem Eigeninteressen wärmstens an ihr Herz legen. Ansonsten bleiben Sie gesund und munter und mir gewogen. Bis zum nächsten Mal. 

Ihr Jörg Gottschalk



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