Episode 17 – Neue Strategien für die Pflegen(den)

oder wie wir Pflege(nde) wirklich stärken

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Ohne Pflege läuft im Krankenhaus nichts, doch das Sagen haben meist andere. Keine Frage: Wir müssen sie stärken. Ohne mehr Pflege wird es keine bessere Organisation geben. Aber wie? Die heutige, eher globale Berufsgruppendiskussion ignoriert die Realität im Alltag. Dort sollten wir ansetzen. Wir steigen hinab an die operative Basis und entwickeln Strategien, wie jede und jeder einzelne Pflegende auf Augenhöhe Einfluss auf Entscheidungen nimmt. Wer Entscheidungen beeinflusst, der gestaltet die neue Realität. Wir stärken Pflege, wenn wir Pflegende stärken. 

Episode 17: Neue Strategien für die Pflege(nden)
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Hallo und Herzlich Willkommen zur 17. Episode von „das ist Lean Hospital“. Mein Name ist Jörg Gottschalk. 

Diese Episode beschäftigt sich mit „der großen Gruppe der Pflegenden“. Genauer gesagt: mit ihrer Stärkung. 

Stärkung nicht als Selbstzweck. Nicht als Selbstaufwertung. Sondern als notwendiger Entwicklungsschritt für die Weiterentwicklung von Krankenhausorganisation. Ich möchte Pflege stärken, weil wir dann bessere Organisationen bekommen werden. Mehr Qualität für unsere Patientinnen und Patienten.

Ich entschuldige mich schon vor ab: diese Episode wird ziemlich lang. Vielleicht, ganz vielleicht, ist sie aber eine der wichtigsten, die ich bislang verfasst habe. Ich möchte Sie ermuntern, bis zum bitteren Ende dranzubleiben.

Pflege spielt in der betrieblichen Krankenhauspraxis heute immer noch nicht die Rollen, die sie spielen sollte und könnte. Ihr Einfluss auf die Gestaltung von Prozessen, und damit auch auf Organisationsverbesserungen, entspricht nicht dem Grad ihrer Bedeutung für den Behandlungserfolg. Ohne Pflege läuft nichts, doch zu sagen haben überwiegend andere.

Das Ding ist: niemand gewinnt allein dadurch an Bedeutung, dass er oder sie auf den Tisch haut und ruft: ich bin wichtig und bedeutend. Bedeutung bekommt man und Einfluss gewinnt man, wenn man wirksam wird. Bedeutung nimmt man sich nicht, man bekommt sie.

Genau darum soll es in diesem Podcast gehen. Um eine Heldenreise vom Steuermann zum Mit-Kapitän. Oder sogar mehr. Pflegende werden wie selbstverständlich zu Mit-Kapitänen, wenn sie in der täglichen Arbeit und in der operativen Verbesserungsarbeit mehr Einfluss auf die Gestaltung von Organisation ausüben können und tatsächlich ausüben, wenn sie aktiv Verantwortung übernehmen. Dann nämlich werden unsere Behandlungsprozesse radikal besser. Davon bin ich überzeugt.

Bisher erlebe ich die Diskussion um die Stärkung von Pflege eher als eine egozentrisch berufspolitische, mit wenig operativer Bodenhaftung. Das hinterlässt bei mir ein deutliches Grummeln im Bauch. 

Gruppenbildung als systemischer Gedanke

Denn die Stärkung einer Berufsgruppe um der Stärkung willen führt uns auf einen gefährlichen Pfad. Um das zu verstehen, muss ich einen kleinen Ausflug in die Systemtheorie unternehmen.

Wir sprechen im Krankenhausalltag stets von Berufsgruppen. Vor allem über die Berufsgruppen der Pflegenden, der Ärztinnen und Ärzte, der Verwaltung bzw. der Kaufleute. Dieser Gruppengedanke ist so fest in den Krankenhausgenen verankert, dass wir ihn von der operativen Basis an bis in die oberste Führung konsequent durchziehen. Also bis in das Dreigestirn der Führung an der Spitze: Verwaltung, Ärzte, Pflege. Ein derart starkes Gruppendenken existiert in keiner anderen Branche.

Das konstituierende Merkmal einer Gruppe besteht darin, dass sie sich von anderen Gruppen unterscheidet. Soll heißen: die Bedeutung einer Gruppe entsteht vor allem durch ihre Abgrenzung von anderen Gruppen. Um diese Abgrenzung wird gerungen und gekämpft. Im systemischen Sinne ist eine Gruppe keine Gruppe mehr, wenn sie sich nicht unterscheidet. Dann verliert sie als Gruppe an Bedeutung und in der Folge ihre Existenzberechtigung.

Genau das macht mir Sorgen. Jede Debatte um die Stärkung einer einzigen Gruppe birgt also die latente Gefahr in sich, dass wir mehr Abgrenzung betreiben. Mehr Mauern aufbauen. Mehr Kämpfe kämpfen. Wenn das passiert, tritt exakt das Gegenteil dessen ein, was für das Unternehmen und seine Organisation sinnvoll und richtig wäre. Denn wollen wir Prozesse gestalten, benötigen wir mehr Gemeinsamkeit, und nicht mehr Abgrenzung.

Deshalb sollten wir damit beginnen, die Diskussion anders zu führen. Es geht weniger darum, die Berufsgruppe der Pflegenden in ihrer Bedeutung zu stärken, sondern darum, den Einfluss jeder einzelnen pflegenden Person auf die Gestaltung von Behandlungsprozessen weiterzuentwickeln. Pflegende bekommen Bedeutung, sobald sie wirksamen Einfluss ausüben.

Das gelingt nicht durch mehr Abgrenzung, sondern dadurch, dass wir Führungsstrukturen anpassen, ihre Rollen im Unternehmen weiterentwickeln, Kompetenzen aufbauen und Pflege offiziell und wirksam mehr Verantwortung für die Gestaltung von Behandlungsprozessen und ihrer kontinuierlichen Verbesserung übernimmt. Mehr Bedeutung wird Pflege bekommen, wenn sie mehr Verantwortung annimmt und sie sichtbar wahrnimmt. Sie sollte bis auf den letzten Winkel in der Organisationshierarchie auf Augenhöhe agieren.

Darüber möchte ich in dieser Episode sprechen. Für ein besseres Verständnis empfehle ich noch einmal in Episode 13 hineinzuhören. Dort geht es um das Krankenhaus Führungslos. Denn einige Aspekte, die für den wachsenden Einfluss von Pflege relevant sein werden, basieren auf klassischen Führungs-Verwirrungen, wie wir sie so nur im Krankenhaus klassischer Prägung finden.

Selbstbewusstsein der Pflege pushen und Verantwortung stärken

Ein zentraler Aspekt von Krankenhaus Führungslos besteht in einem kulturell und historisch bedingten, quasi informellen Macht-Ungleichgewicht zwischen Arztgruppe und Pflegegruppe. Vielleicht ist es auch ein Mann-Frau-Kultur-Thema. Ich bin mir nicht sicher. 

Tatsache ist: Wir können es jeden Tag und in jeder Zielvereinbarung erleben: Chefärztinnen und Chefärzten wird von Seiten ihrer Führung eine Verantwortung für fast alles und jedes übertragen, was allerdings durch formale Regeln kaum gedeckt ist. Offiziell verantworten sie Medizin, die Weiterbildung ihrer Ärzte und deren Agieren. Informell gelten sie darüber hinaus als Hauptakquisiteure, Hauptorganisatoren und Chefökonomen. Chefärztinnen und Chefärzte gelten quasi als eierlegende Wollmilchsäue modernster Prägung.

Schaut man allerdings genauer hin, sind sie meist Feldherren ohne viele Truppen. Trotzdem sollen sie die Schlacht gewinnen. Für die Organisation und für das Unternehmen. Pflege steht dabei oft nur am Verantwortungsrand.

Angesichts dieses Berges an Verantwortung bei gleichzeitiger formaler Machtlosigkeit ist es wenig verwunderlich, dass Chefärztinnen und Chefärzte – ob sie wollen oder nicht – diese Verantwortung tatsächlich wahrzunehmen versuchen und damit zwangsläufig formale Zuständigkeiten gnadenlos überschreiten. Deshalb passiert auf einer Station im Wesentlichen immer noch das, was Chef bzw. seine Ärztinnen und Ärzte wollen. 

Pflege lässt das auf der operativen Ebene im Alltag weitgehend zu. Geht zumindest selten in die Offensive. In den meisten Krankenhausorganisationen herrscht an eben dieser operativen Basis der Versorgung eine ziemlich eindimensionale Dienstleistungs-Mentalität – von Pflege hin zu Arzt. Heute wird durchaus mehr gerungen als früher. Das ist richtig. Und gut. Doch substanziell hat sich meines Erachtens im Alltag wenig verändert.

Wollen wir den Einfluss und die Wirkung von Pflegenden stärken, müssen wir – wie stehts in der Organisationsentwicklung ­– hinabsteigen an die Basis und uns die Frage stellen, wie wir die Mitgestaltungsmacht jedes einzelnen Entscheidungsträgers im Alltag stärken. Globale Debatten in hoher Flughöhe helfen dabei wenig.

Wie können wir also dafür sorgen, dass Pflegende, Stations-/Teamleitungen, Pflegebereichsleitungen und auch Pflegedirektorinnen und -direktoren mehr in die Verantwortung für die Gestaltung von Prozessen gehen, dass Gemeinsamkeit gestärkt und Ungleichheit überwunden wird? Wie schaffen wir echte, gelebte Augenhöhe mit sichtbarer Wirkung?

Den Rahmen für Pflege schaffen

In der Chaos-Organisation Krankenhaus müssen wir zunächst einen formalen Rahmen schaffen, im dem Pflege institutionell und formal gleichberechtigt agiert. Das bedeutet, wir müssen Gelegenheiten fest verankern, in denen Pflegende gemeinsam mit anderen Berufsgruppen Prozesse steuern und sie gemeinsam verbessern. Dazu dient unter anderem Teamboarding, das unternehmensweite Veränderungs- und Verbesserungssystem. Ich habe in der Episode 3 dieses Podcasts ausführlich über Teamboarding berichtet.

Im Teamboarding sind Mitarbeitende der Pflege stets – gleichberechtigte Mitglieder des Verbesserungsteams bzw. des Kernteams. Oft sogar die Federführenden. Für eine Station definieren wir stets zwei Boardverantwortliche – jeweils eine Pflegekraft und ein Arzt bzw. eine Ärztin. Ein klares Signal: es geht um Prozesse, nicht um Berufsgruppen. Sie moderieren im Wechsel das tägliche Boarding. Im Teamwork – der wöchentlichen, gemeinsamen Organisationsarbeitsstunde des Verbesserungsteams, ist nicht etwas die Chefärztin oder der Oberarzt die oder der „Vorsitzende“. sondern der jeweils bestimmte Moderator bzw. die Moderatorin. Das kann jeder oder jede sein. Also auch Pflegende.

Des Weiteren schaffen wir im Teamboarding regelmäßige, tägliche und wöchentliche gemeinsame Treffen. Das Regelmäßig-Gemeinsame fördert das wechselseitige Verständnis und das Wissen um die Arbeitsanforderungen des jeweils anderen und führt zu objektiveren, konstruktiven und vor allem gemeinsamen Lösungen. Regelmäßigkeit trägt dazu bei, dass sich Vertrauen aufbaut. Und damit auch Zutrauen und das Trauen, etwas zu sagen, zu widersprechen, einzufordern und vieles mehr. So entstehen exzellente Prozesslösungen auf Augenhöhe. Hier braucht es kollektives Coaching und mehr Role-Models – Vorbilder für alle.

Vortrag auf dem „lean around the clock 2019“

Pflege-Leitung stärken

Ein weiteres Element der Stärkung besteht darin, Macht-Ungleichgewichte im Alltag zu beseitigen. Man muss sich vergegenwärtigen, dass jeder Steuerungsaktivität und jedem kleinsten organisatorischen Verbesserungsschritt Entscheidungen zugrunde liegen. Meist kleinste Entscheidungen, die jeweils so oder so getroffen werden können. Wer Einfluss auf Entscheidungen ausübt, der beeinflusst das Geschehen. Im Guten wie im Schlechten.

Betrachten wir uns einmal den Alltag. In der täglichen Stationsarbeit stehen sich formal die Stationsleitung und die Chefärztin bzw. der Chefarzt auf Augenhöhe gegenüber. Wird eine Station von mehreren Fachabteilungen belegt, stehen nicht selten einer oft doch sehr einsamen Stationsleitung gleich mehrere habilitierte, promovierte, manchmal leicht ergraute, von Erfahrungen fest geprägte und sich ihrer Bedeutung mehr als bewusste Chefärztinnen und Chefärzte gegenüber. Was für eine Übermacht. Selbst für die stärksten Persönlichkeiten würde dieses Ungleichgewicht eine echte Herausforderung bedeuten.

Genau dort können wir ansetzen. Wo sind beispielsweise die mittlerweile allen Orts installierten Pflegebereichsleitungen, die Teamleitungen, wenn es darum geht, Stationsleitungen in Echtzeit zu stärken? Wo ist die Pflegedirektion? 

Gerade die klassischen Pflegebereichsleitungen erlebe ich bislang so, dass sie vor allem mit Troubleshooting, Personalsuche und anderen eher prozessfernen Tätigkeiten beschäftigt sind. 

Ich meine, wir müssen deren Rolle grundlegend überdenken. Wenn wir nach Einsatzmöglichkeiten für akademisch ausgebildete Pflegekräfte suchen, dann finden wir sie genau hier. Sie sollten aber nicht ferne Manager sein, sondern prozessnah ihre Kolleginnen und Kollegen unterstützen. Sie am Ort des Geschehens stärken, coachen und Vorbilder sein.

Das ist Lean Hospital
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Entscheidungskämpfe abkürzen

Sie merken: Die Stärkung von Pflegenden im Alltag besteht nicht aus einer einzigen, ultimativen Maßnahme. Es geht vielmehr um ein ganzes Bündel von Maßnahmen.

Ein Bündelstück besteht darin, dass sich eine wachsende Mitwirkungskraft auf der operativen Ebene entlang der Hierarchie nach oben widerspiegeln muss. Bedeutung und Wirksamkeit muss sich entlang der gesamten Hierarchiekette wiederfinden. Ohne Brüche, denn ansonsten geht der Rückhalt nach unten verloren. Ein Ja bedeutet ein Ja auf jeder Ebene. Wir benötigen Führung, um Entscheidungen zu stützen oder auch zu treffen. Und sie müssen durchgesetzt werden.

Dazu ein Beispiel: 

Setzt eine engagierte, kompetente und selbstbewusste Stationsleitung im Teamwork einen Prozessschritt gegen die ursprünglichen Widerstände von Ärzten durch, weil diese Vorgehensweise schlicht die bessere Prozesslösung nach sich zieht, bedeutet das im Alltag von Krankenhaus längst nicht, dass sich diese Entscheidung im wirklichen Geschehen tatsächlich durchsetzt. 

Ein Ja bedeutet längst nicht: wir machen das alle. 

Als Stationsleitung bin ich dann weitgehend machtlos. Ich habe keinen formalen Einfluss auf Ärztinnen und Ärzte. Deshalb erwarte ich, dass meine jeweiligen Führungskräfte mir dabei helfen, eine Entscheidungen umzusetzen. 

Dann muss vielleicht die Pflegedienstleitung die Entscheidungen in ihren Gremien, in der Krankenhausleitung, im zähen Ringen mit Chefärztinnen und Chefärzten verargumentieren, die Umsetzung vehement einfordern, sich mit aller Kraft einsetzen, auch in den Konflikt gehen, überzeugen – was auch immer notwendig ist. 

Viele Führungskräfte – auch Pflegedirektorinnen und -Direktoren möchten, dass bspw. ihre Stationsleitungen sehr eigenverantwortlich und dezentral mitgestalten. Dass sie Verantwortung übernehmen. Was ganz klar Sinn ergibt.

Sie geben dann – getrieben von diesem guten Gedanken der dezentralen Verantwortung – Verantwortung ab. Die Krux ist: sie sind damit selbst nicht aus dem Schneider. Im Gegenteil. Sie behalten ihre Verantwortung, weil sie als Führungskräfte immer in der Verantwortung bleiben und in der Hierarchie auch weiterhin eine extrem wichtige Rolle spielen. Sie müssen Entscheidungen treffen, sie müssen helfen, coachen, kämpfen.

Sie stärken also Dezentralität nicht durch Passivität und Zurückhaltung, sondern dadurch, dass sie sich erfolgreich einsetzen. Dagegen schwächen sie das System, wenn sie passiv und wirkungslos bleiben.

Wenn ich dagegen als Stationsleitung die Erfahrung mache, das mir oben nicht hilft, dass ich meine gel ebte Verantwortung nicht erfolgreich wahrnehmen kann, weil ich sie nicht durchsetzen bzw. auf die Straße bringen kann, dann definiere ich meine künftigen Aktivitäten neu und reduziere meinen persönlichen Durchsetzungskampf. Im schlimmsten Fall ziehe ich mich stillschweigend aus meiner Verantwortung zurück. Ich bin enttäuscht von meinen eigenen Leitungskräften.

Das System wird geschwächt, weil zwei Rädchen nicht in die gleiche Richtung drehen.

Eines ist sicher: Je aktiver auf der Arbeitsebene Verbesserungsaktivitäten in Gang geraten, um so mehr werden Geschäftsführungen, Pflegedirektionen und auch Ärztliche Direktorinnen und Direktoren förmlich dazu herausgefordert, zu unterstützen und echte Wirkung zu liefern. Sie werden von Auftraggebern zu Mit-Handelnden.

Rauchende Colts vermeiden

Ein weiterer Baustein in der Pflegestärkungsstrategie besteht darin, Sackgassenkonflikte früher zu vermeiden. Was meine ich?

Nun: Das Ringen um die beste Lösung bedeutet selten gemeinsam Kuscheln, sondern eher Auseinandersetzung, Konflikt. Man ringt und entscheidet. Auf diese Weise entstehen die besten Lösungen.

Ein Dilemma im Krankenhaus Führungslos besteht darin, dass sich oftmals niemand findet, der entscheidet bzw. entscheiden dürfte. Der oder die verantwortlich ist. 

Viele Interessensunterschiede oder Konflikte werden schlicht nicht gelöst, weil sich niemand findet, der oder die eine übergeordnete, auch durchaus konfliktäre Entscheidung treffen könnte oder möchte. Manche Konflikte können eben nicht produktiv und auf Augenhöhe beigelegt werden oder sie enden in einseitigen Machtdemonstrationen oder unklaren, ewigen Kompromissen. Solche Konflikte müssen schlicht auch mal entschieden werden.

Ein Beispiel:

Nehmen wir einmal an, Chefarzt und Stationsleitung wären gemeinsam nicht in der Lage, sich auf einen Uhrzeit für die tägliche Visite auf der Station zu einigen. Ein Allerweltsproblem möchte man meinen.

Sie diskutieren und diskutieren. Sie reden sich die Köpfe heiß. Sie verhaken sich. Das passiert, wenn nicht die eine dem anderen widerspruchslos folgt und die eigenen, durchaus berechtigten Interessen aufgibt. Ein derartiger Konflikt wäre, wenn sämtliche Argumente mehrmals ausgetauscht und diskutiert worden sind, allein durch eine übergeordnete Entscheidung auflösbar. Anderenfalls rauchen die Köpfe bis zum bitteren Ende – oder der scheinbar mächtigere Partner setzt sich durch.

Doch wer wäre diese übergeordnete Instanz? Wer darf entscheiden, wenn Stationsleitung und Chefarzt sich nicht einigen? Wer dürfte eine Entscheidung für den einen und gegen den anderen treffen? Wer hätte dann die Macht dafür zu sorgen, dass diese Entscheidung auch umgesetzt wird? 

Nun – der Chefarzt bzw. die Chefärztin jedenfalls nicht. Die Stationsleitung auch nicht. 

Formal gibt es im Krankenhaus leider meist nur eine echte, legitimierte Instanz: die Geschäftsführung. Bzw. je nach Struktur oder Größe die Instanz, die formal hierarchisch über den anderen steht. Und zwar berufsgruppenübergreifend. Allein hier kann eine überparteiliche, berufsgruppenunabhängige Entscheidung getroffen werden.

Hier sehen wir in letzter Konsequenz das ewige Problem unseres Führungsdreigestirns. Weil sich die Führungsdreiteilung konsequent bis in die Krankenhausleitung durchzieht, betritt sehr oft erst an einer sehr hohen, oft erst an der allerobersten Stelle der Organisation eine berufsgruppenunabhängige Entscheidungsinstanz die Bühne: eben die Geschäftsführung bzw. der Vorstand. Deshalb werden viele Konflikte entweder gar nicht konstruktiv gelöst oder sie landen allzu spät als Riesenproblemballon auf dem Geschäftsführerschreibtisch.

Pflegende in der Operativen stärken bedeutet in diesem Kontext, dass Krankenhausführung ganz konkret, sehr konsequent und sehr bewusst daran arbeitet, dass sich beispielsweise Stationsleitungen der vermeintlichen ärztlichen informellen Übermacht in der Operativen nicht zu früh geschlagen geben. Bei jeder einzelnen Entscheidung. Die besten Lösungen sollen sich durchsetzen, nicht informelle Macht. 

Um ein zu frühes Nachgeben und Einknicken zu vermeiden, müssten sich übergeordnete Entscheidungsinstanzen sehr viel früher in den Entscheidungsprozess einbringen und früher mitentscheiden. Aus der sicheren Distanz lediglich zu beobachten, wie sich die Beteiligten die Köpfe heißreden und sich ineinander verhaken ist selten hilfreich. Der Ärger staut sich auf. Alles zieht sich wie ein Kaugummi in die Länge.

Die mehr als merkwürdige Krankenhausführungsstruktur lässt ein solches früheres Eingreifen bislang kaum zu. Teamboarding bietet nun eine strukturelle Hilfestellung: Hierarchien und damit auch Geschäftsführungen beteiligen sich regelmäßig vor Ort am Verbesserungsgeschehen. Sie führen vor Ort. Sie erkennen deshalb Probleme und Konflikte früher und können zeitiger und damit rechtzeitiger helfen. Bevor die Colts rauchen oder gar in Flammen aufgehen.

Vielleicht werden wir eine Entwicklung erleben, in der an der Basis immer mehr konstruktive Entscheidungen gemeinsam getroffen werden. Wenn die Kompetenz wächst. Wenn das wechselseitige Wissen um Bedarfe, Bedürfnisse und Interessen stärker wird. Wenn Vertrauen aufgebaut ist. Doch bis dahin wird es noch ein weiter Weg sein.

Wissen erwerben und Kompetenzen aufbauen

Wir erwarten von unseren Mitarbeitenden und ihren Führungskräften, dass sie effiziente Organisationen betreiben bzw. führen. Mehr noch: wir erhoffen uns von ihnen, dass sie ihre Erfahrungen einbringen und sie nutzen, um Verbesserungen herbeizuführen. 

Eine grundlegende Voraussetzung dafür, etwas zu tun, besteht darin, dass man es kann. Genau daran hapert es sehr grundlegend. Praktisch niemand hat je professionelle Führungs-, Organisations- und Verbesserungsarbeit gelernt. Pflege nur sehr eingeschränkt, Ärztinnen und Ärzte im Grunde gar nicht. In den seltenen Fällen, in denen solche Fähigkeit doch vermittelt werden, findet das – entschuldigen Sie mein pauschales Urteil – auf recht traditionelle und wenig praxisrelevant statt.

Wir können nicht von Mitarbeitenden etwas verlangen, dass sie nicht können. Krankenhausmitarbeitende sind – auch hier wieder eine Entschuldigung vorab – eine Organisatorische Laienspielgruppe.

Wenn wir bessere Organisationen wollen, müssen wir bei unseren Mitarbeitenden massiv in den Wissensaufbau investieren. Ich spreche nicht von der üblichen Weiterbildung aus dem typischen Personalentwicklungs-Volkshochschulprogramm, sondern von speziellem, methodenorientierten Führungs- und Organisationswissen. Klar, fokussiert, methodenzentriert, jenseits allgemeiner Plattitüden, nicht beliebig.

Selbstverständlich gilt das auch und vor allem für Pflegende. Wir stärken sie im Prozess der Verbesserung, indem wir ihre Wissens- und Kompetenzbasis konsequent erweitern. Je mehr Verständnis für Organisation, Prozessgestaltung, Veränderungsdynamiken existieren, umso professioneller wird ihr Organisations- und Verbesserungsbeitrag werden. Desto mehr wird man sie für ihre reale Kompetenz und ihren Beitrag schätzen. Sie werden Erfolgserlebnisse erleben und an ihnen wachsen. So entsteht echte Selbstwirksamkeit.

Wenn ich etwas zu sagen hätte, würde ich intensive, klar abgestufte, rollenorientierte Weiterbildungsprogramme auflegen und sie fest in das unternehmensweite Personalentwicklungsprogramm integrieren. Damit nicht immer nur etwas obendrauf kommt, würde ich die alten Programme aufräumen und radikal reduzieren. Ich würde diese Form der Kompetenzentwicklung zu einer Voraussetzung für Karriere machen. 

Pflegende würden qua-Kompetenz gestärkt. Sie bringen sich besser ein und stärken durch kompetentes Tun ihre Rolle in der Organisation. Die Welt sähe anders aus.

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Der Roman beschreibt die Entwicklung eines ganz normalen Krankenhauses auf dem Land, das sich in kürzester Zeit aus dem engen Regiment eines börsennotierten Krankenhauskonzerns befreit und sich zu einem selbständigen, wirklich patienten-, versorgungs- und mitarbeitergetriebenen Krankenhaus entwickelt. Dieses Krankenhaus will anders sein als die anderen. Besser für seine Patienten und für seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Und wirtschaftlicher. Es hat eine klare Idee von seiner Zukunft.

Der Hauptprotagonist des Romans, Felix Bender, ist Geschäftsführer eben dieses Melbecker Krankenhauses, als der Start-up-Milliardär Björn Meiersiek das Krankenhaus übernimmt. Dessen Ziel ist klar: den Grundstein für einen Krankenhauskonzern legen, der das Patientenwohl wieder in den Mittelpunkt stellt. Gemeinsam mit der Ärztin Luise Pickart macht er sich daran, das Unternehmen von Grund auf umzukrempeln. Felix Bender, in den traditionellen Sphären der Konzernkrankenhauswelt großgeworden, taucht, quasi über Nacht, ein in eine völlig neue Welt, in der die alten Regeln der Krankenhausführung auf einmal nicht mehr zu gelten scheinen. Er durchlebt im Eiltempo seinen ganz persönlichen Entwicklungsprozess, während er gemeinsam mit Luise Pickart und dem jungen Lean Manager Steffen Ganz seine Organisation konsequent neu erfindet.

Rollen stärken

Letztlich könnten wir Pflegende in der Organisation deutlich stärken, würden wir ihre Rollen und die damit verbundenen Aufgaben weiterentwickeln und klären. Einerseits.

Ein erstes Beispiel habe ich bereits genannt. Pflegebereichsleitungen könnten die organisatorische Verantwortung für mehrere Organisationsbereiche bzw. mehrere Stationen übernehmen. Verantwortung bedeutet, dass sie sich sichtbar verantwortlich dafür fühlen, dass ihre Organisation so funktioniert, wie sie funktionieren soll und sie sich kontinuierlich weiterentwickelt. Kontinuierliche Verbesserung eben. Diese Verantwortung wird sie – wenn man heutigen Denkmustern folgt – zwar primär für pflegerische Aufgaben übernehmen, doch sie wird sich deutlich stärker in die gemeinsame Verbesserungsarbeit – beispielweise im Teamboarding – einbringen.

Heute wird die Rolle von Pflegebereichsleitungen zwar so oder ähnlich definiert, aber nach meiner Beobachtung kaum gelebt. Sie machen eher so etwas wie Personalmanagement. 

Stationsleitungen bleiben nach wie vor allein verantwortlich und oft tatsächlich allein, nur dass sie jetzt eine zusätzliche Vorgesetzte aushalten müssen. Hier ist echte Luft nach oben.

Man könnte sogar weiterdenken. Warum übernehmen Pflegende nicht mehr Verantwortung für die Patientensteuerung. Ständig werden neue Managementfunktionen erfunden: Belegungsmanagement, Entlassmanagement, Case-Management, Change-Management usw. 

Dabei gibt es all diese Menschen schon. Vereint in einer Person. In der Person der Stationsleitung. Diese Rolle braucht ein klares Profil und Kompetenzen, doch vor allem anderen braucht die Person Zeit. Zeit, die heute nicht existiert. Solange Stationsleitungen als personelle Ausputzer überwiegend am Patienten arbeiten, können sie Patienten eben nicht leiten, und ihre Stationen im Übrigen auch nicht. Das Nicht-Leiten von Stationsleitungen ist ein echter Konstruktionsfehler.

Ich habe dieses Phänomen in Episode 7 “Managementinvasion” ausführlich diskutiert.

Am Ende

Pflege stärken ist kein Selbstzweck. Wir brauchen Pflege nicht nur funktionell für die Behandlung unserer Patientinnen und Patienten, sondern künftig deutlich stärker in der Führung und in der Organisations- und Veränderungsgestaltung. 

Wir können keine besseren Prozesse, nicht mehr Qualität, Mitarbeiterzufriedenheit und Wirtschaftlichkeit erreichen, wenn das Prozessleben und die damit verbundene Veränderungsarbeit mehr oder weniger einseitig von einer Berufsgruppe, zentral von oben und ohne die gleichberechtigte Mitwirkung von Pflegenden passiert.

Pflege stärken bedeutet, auf mehreren Feldern gleichzeitig anzusetzen und dafür zu sorgen, dass jede einzelne Person stärker wird, sich besser einbringt, ihre Interessen vertritt und ihr Wissen wirksam einbringt. Wir müssen sie in die Kooperation auf Augenhöhe bringen, nicht in die gruppenstärkende Konkurrenz. 

Gemeinsamkeit in Kompetenz ist das Zeichen der Zukunft.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und Ihr Interesse. Wie immer sind Sie aufgerufen und gebeten, Ihre Meinung zu sagen. Schreiben Sie gerne einen Kommentar oder senden Sie mir eine Email unter info@dikademy.de

Das wars für heute. Ich wünsche eine gute Restwoche. Bleiben Sie mir und diesem Podcast gewogen und selbst gesund.

Bis zum nächsten Mal

Ihr Jörg Gottschalk



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