Episode 7: Managementinvasion oder warum Stationsleitung nicht leitet

Pflege übernimmt Prozessverantwortung

Dinge grundsätzlich zu hinterfragen ist ein fester und wichtiger methodischer Baustein im Lean Hospital. Deshalb stelle ich in dieser siebten Episode die Frage: Brauchen wir die vielen Managementfunktionen im Krankenhaus wirklich? Löst Management irgendein Problem? Oder entziehen wir nur denen die Zeit und die Verantwortung, die eigentlich managen sollen: unseren Stationsleitungen?

die Managementinvasion oder warum Stationsleitungen nicht leiten
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Die Managementinvasion

Fangen wir mit der alltäglichen Managementinvasion um uns herum an.

Immer dann, wenn in einer Organisation etwas nicht so funktioniert, wie es funktionieren sollte, wird eine neue Managementfunktion erfunden. Sobald eine ausreichende Anzahl an Krankenhäusern eine solche Managementfunktion übernommen hat, wird sie von allen anderen übernommen. Der Lemminge-Effekt. Niemand weiß, wofür die Funktion wirklich gut ist. Aber kaum einer traut sich, dem Trend nicht zu folgen. Das ist wenig rational und stark angstgetrieben.

Irgendwann steht die Funktion dann im Gesetzbuch, wird zertifiziert und nie wieder abgeschafft. Niemand könnte sagen, was sie bewirkt. Leider kann auch niemand sagen, was passiert, wenn auf sie verzichtet wird. Also lassen wir sie leben. Auf diese Weise schaffen wir kontinuierlich Zusätzliches, aber sehr selten etwas ab. 

Jede Managementfunktion soll in dieser Denke ein spezielles Problem lösen. Risikomanagement soll Risiken vermindern, Qualitätsmanagement Qualität steigern. Entlassmanagement optimiert die Entlassung und Prozessmanagement die Prozesse, Change Management betreibt Veränderung und Case Management steuert Patienten.

Nicht nur neue Funktionen schießen wie Unkraut aus dem Boden, sondern selbstverständlich immer neue Managementebenen: Leiter Qualitätsmanagement, Bereichsleiter Qualitätsmanagement, Qualitätsmanagementbeauftragte. Gleiches gilt für sämtliche Managementformen. Jeder schafft sich Arbeit und eigene Strukturen.

Management managed nicht nur, sondern es verfasst natürlich viele Berichte über ihr Management. Solche Berichte verfassen die Beteiligten selten alleine, denn sie benötigen Zuarbeiten aus der Organisation von denjenigen, die sich wirklich auskennen. So schafft Arbeit konsequent neue Arbeit. Und irgendwer muss diese Berichte ja auch lesen.

Irgendwann werden wir wohl ein Meta-Management erfinden, das Management managed. So amüsant es klingt, auch das gibt es schon.

Im Grunde genommen handelt es sich bei all dem um den hilflosen Versuch, Management die Probleme lösen zu lassen, die an der Quelle ihres Entstehens nicht lösbar scheinen.

Nicht dass Sie mich falsch verstehen. Ich will diesen vielen Funktionen keinesfalls ihre grundsätzliche Berechtigung absprechen, denn die von ihnen zu lösenden Probleme sind schließlich real. Das Problem besteht allerdings darin, dass die allermeisten Managementbereiche nicht Probleme lösen, sondern lediglich über sie berichten. Sie informieren, bestenfalls schaffen sie Aufmerksamkeit. Sie lösen diese Probleme aber nicht und tragen selten zu einem echten Fortschritt bei. Im Grunde genommen schaffen sie beständig neue Arbeit und verbrauchen Zeit, die sie den operativen Bereichen, die die Kernarbeit erledigen und das Geld verdienen, entziehen.

Wenn man genau hinsieht wird rasch klar, dass all diese Managementfunktionen an ein und demselben Objekt der Begierde arbeiten: den Behandlungsprozessen. Auf den Stationen, im OP oder in den Funktionsbereichen wird genau die Arbeit erledigt, die Qualität produziert und Risiken minimiert. Hier passiert Veränderung, also Change. Hier werden Patienten aufgenommen und entlassen (Belegungsmanagement) und Patienten durch ihren Prozess gelotst (Case Management). Dort wird Geld verdient und ausgegeben. Hier werden Patienten behandelt – und darum geht es doch.

Anstatt die auftretenden Probleme hier, also an der Quelle von den handelnden Akteuren lösen zu lassen und echte Qualität zu schaffen, echte Risiken zu minimieren, perfekt Patienten aufzunehmen, zu steuern und sichtbare Veränderung zu realisieren, entziehen wir diesen Bereichen nicht nur Ressourcen, sondern wir entziehen den handelnden Personen vor allem die Verantwortung. Wir verlagern Verantwortung heraus und hinein in ein Management, das diese Verantwortung alleine schon aufgrund seiner Ferne vom Patientengeschehen überhaupt nicht wahrnehmen kann. Die höchste Verantwortung empfinden immer diejenigen, die direkt am Kunden, also am Patienten arbeiten. Exzellente Prozesse resultieren aus echter Verantwortung für das Geschehen, nicht vom Schreibtisch aus.

Überhaupt betreten immer mehr Verantwortliche das Spielfeld. So wird immer unklarer, wer für den Gesamtprozess verantwortlich ist. Immer neue Schnittstellen entstehen – also nimmt Koordinationsarbeit zu, Reibungen entstehen und wachsende Risiken.

Denken wir doch mal völlig anders. Verzichten wir auf all diese Funktionen und machen es neu.

Was wäre, wenn…

Führungskräfte in den Behandlungsbereichen und ihre Mitarbeitenden lernen würden, ihre Organisation selbst und kontinuierlich zu verbessern. Was wäre, wenn sie über geeignete Instrumente, Strukturen und Kompetenzen verfügten? Könnten sie nicht ihren Fokus dahingehend verändern, dass sie Themen wie Organisationsverbesserung, Qualität, Risiko, Fallsteuerung, Entlassung oder auch Verschwendungsreduktion als wichtigen Bestandteil von Behandlung annehmen und managen?

Sie bräuchten dazu Zeit und kompetente Unterstützung von zentraler Seite. Diese Unterstützung heißt jedoch nicht Management, sondern konkrete operative Hilfe, Coaching und vor allem Zeit.

Interessant ist, dass diese operativ managenden Personen längst existieren. Wir nutzen sie nur nicht. Schauen wir einmal hin.

Stationsleitungen

Die am meisten unterforderte und missgenutztesten Personen in einer Krankenhausorganisation sind nach meinem Dafürhalten Stationsleitungen. Sie leiten nämlich nicht, sondern versuchen beständig die akuten Probleme des Alltages zu neutralisieren und sie fungieren als Springer für ausfallendes Personal. Da Personalmangel und -ausfall heute praktisch den Alltag bedeuten, arbeiten Stationsleitungen zum größten Teil am Bett mit ihren Patienten und tun genau das nicht, was sie eigentlich tun müssten: nämlich leiten. Angesichts des Multi-Millionenumsatzes einer einzigen Station würde ich sagen: es handelt sich um die wohl größte leitungsfreie und selbstgesteuerte Organisationseinheit auf diesem Planeten.

Ungeachtet der Tatsache, dass in der üblichen chaotischen und höchst individuellen Organisation eine strukturierte Steuerung von Abläufen ohnehin nicht möglich ist, bieten sich Stationsleitungen förmlich an, wichtige Managementfunktionen für ihre Patientinnen und Patienten und damit für den Gesamtprozess zu übernehmen. Sie können viel mehr als nur Troubleshooting, den Springer spielen oder Dienstpläne schreiben.

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Warum? Nun… Patienten befinden sich zu mehr als 80 Prozent ihrer Aufenthaltszeit auf einer Station. Hier wird die meiste Arbeit am Patienten ausgeführt. Von hier aus werden sie auf die Diagnostik- und Therapiebereiche verteilt – und zurück.

Stationsleitungen stehen permanent in direktem Kontakt zu ihren Kunden. Sie fühlen echte Verantwortung für deren Aufenthalt – ganz unmittelbar. Mehr als jeder andere im Krankenhaus.

Sie kennen sich in der Organisation aus. Sie wissen was mit Patienten geschehen soll. Sie wissen als erste, wo es hakt und was sie tun müssen. Pflege ist außerdem die einzige Berufsgruppe, die wenigstens eine minimale Organisationsausbildung genossen haben.

Stationsleitungen könnten also über die reine Pflegeorganisation hinaus die organisatorische Gesamtverantwortung für ihre Patienten und ihren Prozess übernehmen. Sie wären in der Lage, Patienten durch den Prozess zu steuern, von der Aufnahme bis zur Entlassung. Sie wären predestiniert dafür, alle unterstützenden Berufsgruppen prozessbezogen zu koordinieren bzw. zu steuern. Man könnte sie in die Lage versetzen, echte Organisationsverantwortung zu übernehmen und – gemeinsam mit allen anderen – Prozessverbesserung systematisch voranzutreiben.

In Kombination mit gut ausgebildeten Schichtleitungen würden Stationsleitungen sämtliche Managementfunktionen in einer Hand integrieren: Sie würden sich um die Belegung kümmern, Patienten steuern. Sie würden über die Prozesssteuerung stark die Prozessqualität beeinflussen und gleichsam dafür sorgen, das Risikogeschehen zu optimieren. Belegungsmanagement, Case Management, Change Management, Qualitätsmanagement und Risikomanagement wären weitgehend überflüssig. 

In der Folge würden man nicht mehr über Qualität, Change, Risiko, Belegung und Fallsteuerung berichten, sondern sie würden am Ort des Geschehens von denjenigen optimiert, die sich verantwortlich fühlen und über echten Einfluss auf die Abläufe verfügen. Die Wirkungen würde man nicht mehr in tausend Berichten archivieren, sondern täglich an den Prozesserfolgen ablesen können.

Ich meine: So herum wird ein Schuh draus. Das wäre eine perfekte Logik. Heute entziehen wir dem operativen Geschehen die Ressourcen und verlagern sie in prozessferne Managementebenen. Das verschärft die Probleme eher, als dass sie sie beseitigt. Diese Zeit geben wir der Operativen zurück und sorgen dafür, dass echte Prozesssteuerung und -verbesserung passiert. Kontinuierlich.

Verstörung

So. Wenn Sie jetzt verstört sind. Irritiert. Ablehnend. Wenn Sie tausend Gründe nennen könnten, warum meine Vorschläge absurd sind, dann befinden Sie sich erstens in guter Gesellschaft und zweitens wäre es genau das, was ich beabsichtigt habe.

Erst Verstörung führt oft dazu, radikal zu werden. Radikal zu denken. Echt zu hinterfragen. Im Idealfall werden wir nun ernsthaft damit beginnen, über bahnbrechend neue Optionen und Schritte nachzudenken. Fragen stellen, um neue Antworten ringen. Für den Fall, dass diese Entwicklung, dieses Ringen, nicht einsetzt, dann gilt eben weiter die alte Wahrheit: Wir erfinden immer neue Managementfunktionen und werden sie nie mehr los. Wir beschäftigen fähige Menschen, nutzen aber ihre Fähigkeiten nicht aus. Dann bleibt eben alles, wie es ist und wird deshalb schlechter. Denn exakt das passiert unweigerlich, wenn es nicht besser wird und Stillstand herrscht.

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Der Roman beschreibt die Entwicklung eines ganz normalen Krankenhauses auf dem Land, das sich in kürzester Zeit aus dem engen Regiment eines börsennotierten Krankenhauskonzerns befreit und sich zu einem selbständigen, wirklich patienten-, versorgungs- und mitarbeitergetriebenen Krankenhaus entwickelt. Dieses Krankenhaus will anders sein als die anderen. Besser für seine Patienten und für seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Und wirtschaftlicher. Es hat eine klare Idee von seiner Zukunft.

Der Hauptprotagonist des Romans, Felix Bender, ist Geschäftsführer eben dieses Melbecker Krankenhauses, als der Start-up-Milliardär Björn Meiersiek das Krankenhaus übernimmt. Dessen Ziel ist klar: den Grundstein für einen Krankenhauskonzern legen, der das Patientenwohl wieder in den Mittelpunkt stellt. Gemeinsam mit der Ärztin Luise Pickart macht er sich daran, das Unternehmen von Grund auf umzukrempeln. Felix Bender, in den traditionellen Sphären der Konzernkrankenhauswelt großgeworden, taucht, quasi über Nacht, ein in eine völlig neue Welt, in der die alten Regeln der Krankenhausführung auf einmal nicht mehr zu gelten scheinen. Er durchlebt im Eiltempo seinen ganz persönlichen Entwicklungsprozess, während er gemeinsam mit Luise Pickart und dem jungen Lean Manager Steffen Ganz seine Organisation konsequent neu erfindet.



Schlussbemerkungen

Auch das ist Lean Hospital. Wir stellen Dinge radikal infrage und denken einfach mal neu. Wer weiß schon, wo man landet.

Also: Fröhliches Provozieren und Nachdenken weiterhin. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und ihr Interesse.

 Wenn Sie mehr über Lean Hospital erfahren möchten, folgen Sie gerne weiterhin meinem Podcast und werfen einen Blick in mein neues Buch mit dem gleichnamigen Titel „das ist Lean Hospital.“ Es ist überall im Buchhandel als Printbook und eBook erhältlich. 

Weitere Informationen finden Sie selbstverständlich auf www.dikademy.de

Ich hoffe, wir hören uns bald wieder. Bleiben Sie mir gewogen, empfehlen Sie diesen Podcast gerne weiter. Eine schöne Restwoche.

Ihr Jörg Gottschalk


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1 Kommentar

  1. Ein ganzheitliches Qualitätsmanagement schliesst alle Bereiche und Unterbereiche mit ein und bietet zentral wie auch dezentral in den einzelnen Abteilungen Möglichkeiten, die Prozesse zu optimieren. Leider ist so ein QM System kaum verbreitet.

Ich freue mich über Ihren Kommentar.

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